19.03.2022

190 Ideen, 43 Empfehlungen und 13 Ziele

Broschüre des Bürgerrates Forum Corona auf eine Tisch
© Amac Garbe

Abschlussveranstaltung „Bürgerrat Forum Corona“: Der erste Sächsische Bürgerrat "Forum Corona" übergibt Corona-Handlungsempfehlungen an Politik.

Brücken bauen zwischen Menschen und Politik und gleichzeitig besser mit der Corona-Pandemie im Freistaat umgehen: Dazu haben sich 50 zufällig ausgewählte Menschen aus Sachsen im neuen Bürgerbeteiligungsformat Bürgerrat "Forum Corona" sieben Monate lang Gedanken gemacht. Herausgekommen sind insgesamt 43 konkrete Empfehlungen, 190 Ideen und 13 Handlungsziele in vier Politikfeldern. Feierlich wurden die von Bürgern und Bürgerinnen erarbeiteten Vorschläge am Samstag, 19.03.2022, digital oder persönlich übergeben an Ministerpräsident Michael Kretschmer, Katja Meier, Staatsministerin der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung, Dagmar Neukirch vom Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, Wilfried Kühner, Amtschef im Staatsministerium für Kultus und Thomas Kralinski als Amtschef im Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr. Die Vertreter und Vertreterinnen der sächsischen Staatsregierung sowie des Landtags fanden viele Worte der Anerkennung für die konstruktive, ehrenamtliche Arbeit des Bürgerrates. So sagte Ministerpräsident Michael Kretschmer: "Unsere Demokratie lebt vom Mitmachen. Sie ist dann stark, wenn sich Bürgerinnen und Bürger beteiligen und unsere Gesellschaft aktiv mitgestalten. Genau das haben Sie mit der ehrenamtlichen Arbeit im Bürgerrat in beeindruckender Weise getan. Ihre Kritik und Ihre Ideen sind wichtig. Ihr Rat ist sehr willkommen und wird gebraucht."

Zur Abschlussveranstaltung des Bürgerrats "Forum Corona" im sogenannten Bienenkorb, dem prunkvollsten Sitzungssaal der sächsischen Staatskanzlei in Dresden mit seinen holzvertäfelten Wänden, den imposanten Kronleuchtern sowie der prachtvollen Stuck- und Gemäldeverzierung an der Decke, kamen Angehörige aus Zivilgesellschaft, Politik und Wissenschaft für einen Austausch auf Augenhöhe zusammen. Am hufeisenförmigen dunklen Tisch, da, wo während der Pandemie oft die Staatsregierung zu neuen Coronamaßnahmen debattierte, hat der Bürgerrat einige der wichtigsten Ergebnisse präsentiert. Im zweiten Teil der Veranstaltung wurde diskutiert, inwiefern sich das Format "Bürgerrat" auch für andere Themen eignet, um sächsische Bürger und Bürgerinnen künftig besser in politische Entscheidungsfindungsprozesse einzubinden und verloren gegangenes Vertrauen in die Politik wieder zu gewinnen.

Konstruktive Lösungsvorschläge

Der Bürgerrat setzte sich zusammen aus einer Gruppe, die nach statistischen Kriterien repräsentativ für Sachsen sein sollte. Nach Zufallsprinzip wurden im Sommer vergangenen Jahres 5.000 Personen im Freistaat per Brief eingeladen, ihre Ideen beim Bürgerrat einzubringen. Aus den Menschen, die sich zurückgemeldet hatten, wurde eine Gruppe von 50 Menschen zusammengestellt, die die sächsische Gesellschaft im Miniaturformat in Bezug auf Alter, Wohnort, Bildungsabschluss und Geschlecht abbildeten. In digitalen, moderierten Treffen erarbeitete das ehrenamtliche Gremium über mehrere Monate hinweg, was aus Sicht von Bürgerinnen und Bürgern in punkto Pandemiebewältigung schiefgelaufen ist und was künftig konkret verbessert werden sollte. Organisiert und umgesetzt wurden Treffen von der Initiative Offene Gesellschaft e.V. Bindenden Charakter haben die Vorschläge des Bürgerrats für die Gesetzgebung nicht, jedoch sehen alle Beteiligten die aus Bürgerperspektive erarbeiteten Empfehlungen als wertvolle Ergänzung im Sinne des Perspektivwechsels.

Die Möglichkeit, sich als Bürgerin aktiv in politische Entscheidungsprozesse einbringen zu können, kam bei Bürgerratsteilnehmerin Lavinia Claar gut an: "Ich empfand den Bürgerrat als positiv. Obwohl es durch das digitale Format am Anfang schwierig war, haben wir es trotzdem geschafft, am Ende Lösungen zu erarbeiten – und das, obwohl die Leute, die da mitgemacht haben, schon sehr unterschiedlich waren. Vermutlich wäre ich mit vielen sonst nie ins Gespräch gekommen", erzählt die 27-jährige Studentin.

Persönliche Begegnungen zwischen Politik und Zivilgesellschaft

In ihren Grußworten zu Beginn der Veranstaltung würdigten Ministerpräsident Michael Kretschmer und Staatsministerin Katja Meier die konstruktive und strukturierte Arbeit des Bürgerrates. Sie bedankten sich bei den Beteiligten für das Engagement und betonten die Bedeutung von Kommunikation für die Demokratie. Im Anschluss blickten Marett Klahn und Özcan Karadeniz als Moderatorenteam auf den Ablauf des Bürgerrats zurück. Die beiden Kommunikationsprofis begleiteten neben der Abschlussveranstaltung auch die übrigen Treffen des Bürgerrats, die coronabedingt allesamt digital durchgeführt wurden. Der persönliche Austausch dürfe bei solchen Formaten jedoch nicht zu kurz kommen, resümiert Bürgerratsmitglied Maik Liebau: "Ich finde es sehr schön, einige Leute aus dem Bürgerrat, die Organisatoren und Menschen aus der Politik heute mal persönlich zu begegnen. Es ist eine sehr angenehme Atmosphäre hier." Der 57-Jährige Chemiker, der sich im Bürgerrat besonders für das Handlungsfeld "Gesundheit" interessiert hatte, würde bei künftigen Bürgerräten zu einem Mix aus Online- und Präsenzveranstaltungen raten: "Durch die Videokonferenzen ist es zwar leichter, an den Terminen teilzunehmen, aber die Leute müssen sich auch persönlich kennenlernen und am Rande Gespräche führen können."

Kritik und Ideen 

Aufgrund der noch immer andauernden Coronapandemie wurde die Veranstaltung hybrid geplant und per Livestream übertragen. 167 Menschen verfolgten die Übertragung mit Gebärdendolmetschung in Echtzeit zuhause am Bildschirm. Für Interessierte ist die Aufzeichnung der Veranstaltung weiterhin online verfügbar. Von den riesigen Scheinwerfern, den Mikrofonen, den verschiedenen Monitoren und von der Regie an der Seite des Raumes, ließen sich die Teilnehmenden des Bürgerrates wenig beeindrucken. Selbstbewusst präsentierten sie einige der wichtigsten Ergebnisse aus den vier verschiedenen Handlungsfeldern "Gesundheit", "Bildung", "Politik und Verwaltung" sowie "Wirtschaft":

  • Gesundheit
    • Fachkräfte im Pflege- und Gesundheitssektor sollen besser bezahlt werden. 
    • Bund und Länder sollen Expertinnen und Experten für psychische Gesundheit in die beratenden Gremien zur Corona-Pandemie einbeziehen.
  • Bildung
    • Schulen sollen mit moderner digitaler Infrastruktur ausgestattet werden und entsprechende personelle Unterstützung erhalten.
    • Kleinere Klassengrößen und Tutoren sollen eingeführt werden, um die beste Unterstützung und Betreuung von Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen und Lehrkräfte zu entlasten.
  • Politik
    • Die Politik soll Unsicherheiten und Fehlbarkeit offen kommunizieren.
    • Bei wichtigen politischen Entscheidungen wie der Entwicklung von Infektionsschutzmaßnahmen soll die Politik die Expertise von Expertinnen und Betroffenen aus der Bevölkerung einbeziehen.
  • Wirtschaft
    • Es soll mehr Vielfalt in den staatlich unterstützten Kinderbetreuungsmodellen geben.
    • Finanzielle Förderung soll für alle, die einen Anspruch darauf haben, unbürokratisch und zeitnah verfügbar sein.

Bei der Präsentation konnten die Teilnehmenden aus dem Bürgerrat "Forum Corona" ausführlich erklären, warum sie bei den jeweiligen Empfehlungen dringenden Handlungsbedarf sehen. Sie spiegelten den Vertreterinnen und Vertretern der Politik, was sie an der bisherigen Umsetzung von Maßnahmen als unverständlich wahrgenommen haben. Kritisiert wurde zum Beispiel, dass Coronatests im September 2021 plötzlich für eine Zeitlang kostenpflichtig wurden, dass Impfzentren geschlossen wurden oder, dass datenschutzrechtliche Hindernisse, mangelnde Qualifikation von Lehrkräften und Familien sowie Lieferprobleme von Endgeräten der Digitalisierung an Schulen im Wege stehen würden. Auch die Qualität der Kommunikation oder Eigenheiten des Föderalismus, weswegen Baumärkte oder Hotels in Sachsen geschlossen waren, während sie in anderen Bundesländern öffnen durften, wurden bemängelt.

Gehör auch für die leisen Stimmen

Moderatorin Marett Klahn bewunderte, was die Menschen im Bürgerrat erarbeitet haben und "mit welcher Ausdauer, mit welcher Hingebung sie sich eingebracht haben – und noch dazu zu so einem Thema, das sehr viele Menschen in ihrem Alltag sehr beschäftigt und belastet hat". Die Ergebnisse können Interessierte komplett online einsehen oder in der Broschüre nachlesen. Klahn sieht im Format Bürgerrat ein wichtiges Instrument der Beteiligung, was nicht zuletzt dem Losverfahren bei der Auswahl der Teilnehmenden geschuldet sei, wodurch andere Menschen als die "üblichen Verdächtigen" erreicht werden können. Wichtig sei auch die professionelle Moderation eines solchen Formats, da so auch die Stilleren und Schüchternen zu Wort kommen und jene Gehör finden, die vielleicht nicht so erfahren darin sind, ihre Meinung in eine Diskussion einzubringen. Doch auch deren Perspektive ist für den politischen Entscheidungsfindungsprozess wertvoll.

Grenzen des Machbaren

Was die Beteiligten besonders interessierte, war die Frage, wie die Politik nun mit den Handlungsergebnissen umgehen wird. "Die Empfehlungen kommen zur rechten Zeit, denn wir sind dabei uns zu fragen: was lernen wir aus der Pandemie?", bedankte sich Dagmar Neukirch, Staatsekretärin vom Sächsischen Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt. Interessant fand sie, dass die Handlungsempfehlungen neben der Politik auch an weitere Akteure der Gesellschaft adressiert waren. Willfried Kühner, Amtschef des Staatsministeriums für Kultus, warb angesichts der Kritik beim Thema Digitalisierung von Schulen für Verständnis: "Wir sind im Jahr 2020 total überraschend in diese Situation gekommen. Gemessen an den Umständen sind wir auf einem guten Weg." Gleichzeitig betont er, dass die Anregungen bei den zuständigen Ministerien ankommen und intensiv diskutiert werden sollen. Kühner zeigt aber auch die Grenzen des Machbaren auf. Auch Thomas Kralinski, Staatssekretär für Arbeit und Wirtschaft und Amtschef des Sächsischen Staatsministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr wirbt für Verständnis der politischen Prozesse: "Die Corona-Pandemie hat unsere Welt rasant verändert und viele bisherige Gewohnheiten in Frage gestellt, sei es in unserer Gesellschaft, in der Wirtschaft oder dem alltäglichen Leben. Deshalb bin ich dem Bürgerrat sehr dankbar, denn er hat sich sehr genau die verschiedenen Folgewirkungen angeschaut. Ein Zurück in den Alltag vor Corona wird es sicherlich nicht geben. Deshalb werden wir uns die Erfahrungen und Empfehlungen des Bürgerrates sehr genau anschauen, denn jetzt gilt es nach vorn zu schauen und für die Zukunft zu lernen."

Keine leeren Versprechen

Beim Bürgerrat motivieren diese Aussagen: "Ich fand es gut, dass hier ganz ehrlich mit uns geredet wird und offen gesagt wurde, wo vielleicht auch die Grenzen sind – besser, als wenn leere Versprechen gemacht werden. Was wir als Bürgerrat wollten war: Empfehlungen zu geben. Darüber entscheiden müssen dann die gewählten Politikerinnen und Politiker, denn unsere Vorschläge sind nicht bindend", sagt Maik Liebau. Bürgerratsteilnehmerin Lavinia Claar hofft trotzdem, dass die Politik durch die Empfehlungen des Bürgerrats nochmal motiviert wird, über die eigene Haltung zu manchen Themen noch mal zu neu nachzudenken, besonders wichtig aus ihrer Sicht: Digitalisierung. Da die Vorschläge erst zur Veranstaltung übergeben wurden, ist sie optimistisch, dass sich bestimmte Sichtweisen noch ändern können. Das Interesse der Politik an den Vorschlägen war groß. Ministerpräsident Kretschmer versicherte, dass die Empfehlungen ernsthaft diskutiert werden, besonders die Frage, "wie mehr Entscheidungen in die Hände der Betroffenen gelegt werden können". Die Stellungnahmen werden ab Sommer auch öffentlich einsehbar sein.

Format mit Zukunft

Im zweiten Teil der Veranstaltung wurde diskutiert, ob und wie Bürgerbeteiligungsformate wie der Bürgerrat auch künftig einberufen werden können. Danny Marx, ebenfalls Teilnehmer des ersten sächsischen Bürgerrats ist optimistisch: "Ich sehe große Chancen für die Zukunft, besonders den großen Querschnitt der Bevölkerung fand ich spannend." Auch Staatsministerin Meier sieht viel Potenzial in dem Format, vor allem auch, weil sie neben der inhaltlichen Arbeit zusätzlich einen Verständnisgewinn für politische Entscheidungsfindungsprozesse wahrgenommen hat.

Dass Instrumente der zivilgesellschaftlichen Beteiligung wichtig sind, darüber waren sich bei der Abschlussveranstaltung alle Beteiligten einig, viele sprachen sich dafür aus, solche Formate künftig auch auf regionaler oder kommunaler Ebene in Sachsen zu etablieren. Prof. Dr. Hans Vorländer, Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung sowie Direktor des Mercator Forum Migration und Demokratie, hebt besonders die konstruktive Ausrichtung des Bürgerrats hervor: "Es geht nicht immer nur Gegen etwas. Bürger und Bürgerinnen besprechen Themen und nehmen einen Perspektivwechsel vor. Misstrauen wird so durch neues Vertrauen verdrängt. Die Menschen bekommen Einblicke in Prozesse, die sie sonst nicht so unmittelbar erleben. Dadurch wächst auch das Verständnis." Dabei gehe es nicht unbedingt darum, dass alle einer Meinung sein müssen, ergänzt Prof. Dr. Vorländer: "Die Demokratie lebt von unterschiedlichen Vorstellungen." Dass trotzdem so viele konkrete Lösungen gefunden wurden, hat sogar die Teilnehmenden beeindruckt und für zukünftiges Engagement motiviert. "Der Bürgerrat ist eine sehr gute Möglichkeit, als sich als normale Bürgerin wirklich einzubringen und Partizipation zu leben. Gerade bei Entscheidungen, die von oben herab getroffen werden, hat man so trotzdem die Möglichkeit, gehört zu werden. Ich kann nur wirklich allen empfehlen bei so etwas mal mitzumachen, wenn einem mal so ein Brief ins Haus flattert. Das ist eine sehr gute Sache", sagt Bürgerratsteilnehmerin Lavinia Claar.

Fördergelder für Bürgerbeteiligungsformate

Zum Abschluss der Veranstaltung weist Staatsministerin Meier noch auf die erst vor kurzem beschlossene Förderrichtlinie Bürgerbeteiligung hin, mit deren Hilfe Bürgerbeteiligungsformate auf kommunaler Ebene, und auch zivilgesellschaftliche Initiativen vor Ort finanziell unterstützt werden können, denn "die Konstruktivität dieser Debatte hier, hat Vorbildcharakter". Besonders bei Themen wie E-Mobilität, Strukturwandel in ehemaligen Braunkohleregionen wären Bürgerräte nach dem Vorbild des "Forum Corona" denkbar. Doch auch andere Formate kämen in Frage. Wünsche, die während der Debatte für die Zukunft genannt wurden: noch stärker als bislang versuchen, sogenannte "Wutbürger" einzubeziehen und auch Kinder stärker beteiligen.  

Initiiert, begleitet und finanziert mit Mitteln des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushalts wurde das neue Format der Bürgerbeteiligung vom Sächsischen Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung auf Grundlage des Koalitionsvertrages. Projektträger war die Initiative Offene Gesellschaft e.V. Mit dem Pilotprojekt Bürgerrat "Forum Corona" möchten die regierungstragenden Parteien die zivilgesellschaftliche Teilhabe stärker fördern und die Bevölkerung stärker in Entscheidungsfindungsprozesse einbinden.

Aufzeichnung der Veranstaltung bei YouTube

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Handlungsempfehlungen des Bürgerrats „Forum Corona“

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