04.11.2021, 06:00 Uhr

Reicht es?! 10 Jahre NSU-Aufarbeitung

© Thomas Dietze

Am 4. November 2021 jährt sich zum zehnten Mal die Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU). Der NSU tötete zehn Menschen, verübte Anschläge und Raubüberfälle. Um an die Opfer des NSU zu erinnern und dessen Aufarbeitung zu diskutieren, veranstalteten das Sächsische Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung und die Stadt Zwickau einen gemeinsamen Gedenk- und Bildungstag unter dem Titel „Reicht es?! – 10 Jahre NSU-Aufarbeitung“ in Zwickau.

In ihrer Eröffnungsrede betonte Staatssekretärin Dr. Gesine Märtens, der Rechtsextremismus sei weiterhin eine große Bedrohung für unsere Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Sachsen. „Deshalb müssen wir als Gesellschaft dagegenhalten und dabei Respekt, Selbstreflexion und Demut zeigen“, sagte Dr. Gesine Märtens. „Wir brauchen viele engagierte Partner, die Verantwortung für die Aufarbeitung tragen, denn der NSU-Komplex ist noch nicht aufgelöst, auch wenn die Haupttäter inzwischen verurteilt sind.“ Auch in Zwickau seien noch Wunden sichtbar, die erst mit der Zeit heilen werden. Die Staatssekretärin bedankte sich bei allen Beteiligten, die den Gedenk- und Bildungstag ermöglicht haben: Insbesondere die Stadt Zwickau, aber auch die vielen Initiativen, die mit ihrem Engagement und ihrer Bildungsarbeit zeigen, wie ein demokratisches Miteinander funktioniert.

Diskussionen über die Lehren für den öffentlichen Sektor

Zwei Workshops am Nachmittag widmeten sich dem Thema NSU-Aufarbeitung. Gerichtet waren sie an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung, Dozierende der Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus dem öffentlichen Sektor mit Bezügen unter anderem zu Demokratie, Inneres, Justiz oder politischer Bildung.

Im Workshop „Anders besser?! Konsequenzen aus dem NSU für Aus-, Fort- und Weiterbildung“ diskutierten die Teilnehmenden über mögliche Lehren der bisherigen Aufarbeitung für interne Bildungsangebote und zukünftiges Verwaltungshandeln. Zur Diskussion standen auch Praktiken und Methoden, die Mitarbeitende des öffentlichen Sektors stärker für – auch verdeckte – demokratiefeindliche Prozesse sensibilisieren.

Im Gespräch ging es um die Bedeutung der politischen Bildung im öffentlichen Sektor. Viele Beteiligte waren der Meinung, dass politische Bildung einen großen Einfluss auf den Umgang mit Fällen wie die NSU-Morde haben kann. Auch die Besonderheit der Biographiearbeit wurde in der Praxis präsentiert. Durch detaillierte Auseinandersetzung mit den Geschichten der Opfer wurde den Teilnehmerinnen und Teilnehmern deutlich gemacht, wie sie damit Verständnis und Verbindung aufbauen können. Auch zum Abbau der Stereotype, im Privaten wie im Beruflichen, kann eine solche Arbeit sehr viel beitragen. 

Agnes Scharnetzky, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der John-Dewey-Forschungsstelle für die Didaktik der Demokratie, sowie Hannah Zimmermann, Soziologin und Herausgeberin des Buches „Vom Lernen und Verlernen – Methodenhandbuch zur rassismuskritischen Aufarbeitung des NSU-Komplex“, bereicherten die Gespräche mit ihren Impulsvorträgen.

Unter dem Titel „Was soll‘s?! Anforderungen an ein NSU-Dokumentationszentrum“ erörterten Teilnehmerinnen und Teilnehmer, wie sich der öffentliche Sektor im Rahmen eines größeren Prozesses zur Entwicklung eines Dokumentationszentrums positioniert. Die Ergebnisse fließen in die Planung und Entwicklung eines NSU-Dokumentationszentrums ein, dessen Gründung im sächsischen Koalitionsvertrag (2019-2024) verankert wurde. Zusätzlich werden sie in anderen Gremien bearbeitet, unter anderem im Expertinnen- und Expertengremium des Demokratiezentrums des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Bei dem Workshop waren Vertreterinnen und Vertreter der Städte Chemnitz, Zwickau und Jena anwesend. Alle haben eine hohe Bereitschaft gezeigt, am Entstehungsprozess des Zentrums mitzuwirken. 
 
Hinterbliebene Familien, die unmittelbar von dem Leid, von den traumatischen Erlebnissen betroffen sind, müssen in den Prozess einbezogen werden, ihre Erfahrungen dort eine Rolle spielen. Eine Aufgabe des Zentrums sollte darum sein, neben der Aufklärungsarbeit das Leid derer zu dokumentieren, deren Leben durch den Terror zerstört wurden.
 

Impulsvorträge hielt die Leitung des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts der Universität Leipzig: Prof. Dr. phil. Oliver Decker und Dr. des. Fiona Kalkstein.

Ein lebendiger Ort demokratischen Austauschs

Aus der bisherigen Aufarbeitung des NSU-Komplex ist die Idee entstanden, ein Dokumentationszentrum in der Region zu etablieren. Im Rahmen des Gedenk- und Bildungstages überreichte Staatsministerin Katja Meier einen Fördermittelbescheid in Höhe von 95.000 Euro für die konzeptionelle Planung eines solchen Zentrums an den Verein Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) e.V. „Das Dokumentationszentrum soll ein lebendiger Ort werden, an dem Bildungsarbeit stattfindet, an dem Menschen zusammenkommen und ein Ort des demokratischen Austauschs, an dem Standpunkte diskutiert, Ideen entwickelt und umgesetzt werden“, sagte Justiz- und Demokratieministerin Katja Meier in ihrer Rede. „Die Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex ist von nationaler Tragweite.“

Erinnerung an die Opfer des NSU

Ein wichtiger Punkt des Tages war das Gedenken der zehn Menschen, die ihr Leben durch den Terror des NSU-Netzwerks verloren: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kiliç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşik, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter.

Beim Gedenken im Dom St. Marien erinnerten Vertreterinnen und Vertreter der Stadt Zwickau gemeinsam mit Kirchenvertretern und weiteren Akteuren an den NSU-Terror und dessen Opfer. Das anschließende Stille Gedenken fand statt bei den im Schwanenteichpark zur Erinnerung an die zehn Todesopfer gepflanzten Bäumen. „Die Wunden, die der NSU uns als Gesellschaft geschlagen hat, sind nicht mit dem Leid der Opfer und ihrer Hinterbliebenen zu vergleichen. Aber dass heute in Zwickau ein Gedenktag stattfindet, dass sich die Menschen an vielen Orten fragen, wie so etwas passieren konnte, das zeigt: Wir nehmen Anteil, und wir wissen um unsere Verantwortung.“ sagte Justiz- und Demokratieministerin Katja Meier in ihrer Rede.

Reicht es?! – 10 Jahre NSU-Aufarbeitung

Eine Podiumsdiskussion zu zehn Jahren NSU-Aufarbeitung bildete den Abschluss des Gedenktages. Vertreterinnen und Vertreter der sächsischen Staatsministerien und der Kommunen, zivilgesellschaftliche Akteure sowie das Publikum diskutierten unter anderem darüber, an welchem Punkt Sachsen und Zwickau zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU stehen, was Menschen und Gesellschaft aus dem bisherigen Prozess der Aufarbeitung gelernt haben und wie dieser in Zukunft gestaltet sein sollte.

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